Spiegelbilder - die Entdeckung des eigenen Ich

Spiegelnde Flächen sind faszinierend. Erst weil sie glänzen und vielleicht ein Licht wiederspiegeln, später weil Dinge und Personen in Ihnen auftauchen, die wie aus einer zweiten Welt zu kommen scheinen.


In der Zeit zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat entwickelt sich das "Ich" und damit das Selbstbewusstsein. Das Kind befindet sich im sogenannten Spiegelstadium (nach Theorie des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan)


Der kleine Mensch entdeckt sich als eigenständige Person und Persönlichkeit. Er erblickt sich selbst im Spiegel und begrüßt das Spiegelbild mit Äußerungen von Begeisterung und Freude. Nun kann sich das Kind zum ersten mal vollständig betrachten. Zuvor hat es aus der Leibperspektive, die das betrachten des eigenen Gesichtes nicht ermöglicht, ja nur seine Gliedmaßen (als Partialobjekte) erkunden können.


Dazu schreibst Lacan: "Erst durch das im Spiegel erblickte Selbstbild entwickelt das Kind ein Bewusstsein von sich selbst. ... „Man kann das Spiegelstadium als eine Identifikation verstehen im vollen Sinne, den die Psychoanalyse diesem Terminus gibt: als eine beim Subjekt durch die Aufnahme eines Bildes ausgelöste Verwandlung.“ (Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, S. 64)


Nun betrachtet es sich und andere im Spiegel und beginnt mit dem Gesehenen zu spielen. Eventuell ahmt es die anderen im Spiegel nach und wird sich so auch seiner Selbsttätigkeit bewusst. Es beginnt so sich selbst und auch andere wahrzunehmen. Das Kind betrachtet sich im Spiegel als jemand anderen und erfährt zugleich wie es von anderen gesehen wird.

Hier beginnt die erste Unterscheidung zwischen Ich- und Nicht-Ich, also zwischen sich selbst und anderen Individuen.


Das Kind erfährt sich zum ersten mal als autonomes Lebewesen, nachdem es in seiner anfänglichen Entwicklung symbiotisch mit seiner Umwelt verbunden war. Es konnte bis dahin nicht zwischen fremden und eigenen Gefühlen und Handlungen unterscheiden.

Eine Rückkehr in die frühkindliche Symbiose in der Nicht-Ich und Ich (also zum Beispiel das Kind und die Mutter) untrennbar waren, ist nun unmöglich. Das heißt, dass das Kind nun auch seine eigenen Gefühle und Handlungen unabhängig von seiner Umwelt und andere Personen erlebt.


Die Gefühlswelt für sich und andere ist also mit der Erkenntnis des selbst seins verbunden. So konnte ich in letzter Zeit bei meiner Tochter genau diese Wandlung beobachten. Weinte sie vor einigen Wochen noch herzzerreißend mit, wenn ein anderes Kind neben ihr weinte, so ist auch eine emotionale Unterscheidung zwischen ihr und anderen zu beobachten, seit sie sich (im 11. Lebensmonat) selbst im Spiegel erkennt. Sie kann nun gelassen auf ein weinendes oder zorniges Kind blicken. In solchen Situationen orientiert sie sich eher an meiner Reaktion auf das Geschehen.


Oft freut sie sich über ihr eigenes Bild im Spiegel und über das Bild mit mir (der Mutter) gemeinsam im Spiegel. Wenn ich in den Spiegel lächle, dann lächelt auch sie. Eine besondere Freude ist es ihr wenn ihre Handpuppe vor und im Spiegel zu sehen ist. Sie hat großen Spaß und ist fasziniert, wenn die Handpuppe am unteren Rand verschwindet und dann langsam wieder im Spiegel erscheint. Das kann sie sehr ausdauernd beobachten.

Aus dieser Beobachtung ergeben sich für uns zahlreiche neue Spielmöglichkeiten mit Spiegeln.

Es beginnt nun also ein ganz neuer Lebensabschnitt in dem mein Kind die Welt aufs Neue mit anderen Augen sieht und für sich entdeckt.

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